|
Fundstelle: BVerfGE 33, 1
Datum: 14.3.1972
Leitsätze:
- Auch die Grundrechte von Strafgefangenen können nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden.
- Eingriffe in die Grundrechte von Strafgefangenen, die keine gesetzliche Grundlage haben, müssen jedoch für eine gewisse Übergangsfrist hingenommen werden.
- Eine Einschränkung der Grundrechte des Strafgefangenen kommt nur in Betracht, wenn sie zur Erreichung eines von der Wertordnung des Grundgesetzes gedeckten gemeinschaftsbezogenen Zweckes unerläßlich ist.
- Es wird Aufgabe eines Strafvollzuggesetzes sein, eine Grenze zu ziehen, die sowohl der Meinungsfreiheit des Gefangenen wie den unabdingbaren Erfordernissen eines geordneten und sinnvollen Strafvollzuges angemessen Rechung trägt.
Sachverhalt: Der Beschwerdeführer ist Strafgefangener. Am 24. Dezember 1967 richtete er an X einen Brief, in dem er sich auch mit der Person des scheidenden Anstaltsleiters Dr. St. und den seiner Ansicht nach maßgeblichen Hintergründen für den Wechsel n der Leitung der Strafanstalt beschäftigte. Dabei äußerte er sich über Dr. St. sehr abfällig.
Am 27. Dezember 1967 wurde dieser Brief vom zuständigen Abteilungsleiter angehalten, weil er beleidigende Äußerungen enthalte und darin Anstaltsverhältnisse erörtert würden, die den Gefangenen persönlich nichts angingen Als Rechtsgrundlage [die Verwaltungsvorschrift] Nr. 155 Abs. 2 DVollzO angegeben.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdführer die Verletzung der Art. 1 Abs. 2, 5 Abs. 1, 10, 19 Abs. 1, 20 Abs. 3 und 103 Abs. 1 GG.
(...)
Entscheidung: Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Begründung: (...) Das Grundgesetz setzt in Art. 104 Abs. 1 und 2 und in Art. 2 Abs. 2 Sätze 2 und 3 die Möglichkeit einer zeitlich begrenzten oder unbegrenzten Freiheitsentziehung durch richterliches Strafurteil (...) als selbstverständlich voraus. Dagegen enthält es - mit Ausnahme des in Art. 104 Abs. 1 S. 2 niedergelegten Mißhandlungsverbots - keine grundsätzliche Aussage über die Art und Weise, in der die Freiheitsstrafe zu vollziehen ist. Soweit es um die Einschränkung von Grundgesetzen geht, bestimmen allerdings die betreffenden Verfassungsnormen, daß dies nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes zulässig ist. (...) Der naheliegene Schluß, der Gesetzgeber sei aus diesem Grunde nunmehr verpflichtet, auch für den bisher ganz überwiegend durch bloße Verwaltungsvorschrift geregelten Bereich des Strafvollzuges eine entsprechendes Gesetz zu erlassen, wurde aber nach Inkraftreten des Grundgesetzes zunächst in Rechtsprechung und Lehre nicht gezogen. Vielmehr griff man auf die Rechtsfigur des "besonderen Gewaltverhältnisses" zurück und verstand dieses als eine eigenständige, implizite Beschränkung der Grundrechte der Strafgefangenen, ein Strafvollzugsgesetz hielt man von Verfassung wegen nicht für geboten (...)
Gegen die überkommene Auffassung konnte sich die Einsicht, daß das Grundgesetz als eine objektive Wertordnung mit umfassenden Grundrechtsschutz, die zu verwirklichen die gesamte öffentliche Gewalt verpflichtet ist, einen ipso iure eingeschränkten Grundrechtsschutz für bestimmte Personengruppen nicht zuläßt, erst allmählich durchsetzen (...)
Werbung:
| |